23 Mai 2013

Mondnacht im Mai

Bevor es mich wieder weiter in blühende Landschaften zieht, sind die gestohlenen Papiere fertig geworden: Zulassungsschein I, Personalausweis, Führerschein. Für diese Plastikkarte verlangt die Behörde 35 Euro. Skurrile Dienstleistungsgesellschaft: Um von Winter- auf Sommerreifen zu wechseln, braucht die VW-Werkstatt mehrere Anläufe!


Während meine Ausweise gedruckt wurden, wagt der kleine Mann, knapp Zweijährig, erste Abenteuer im Tierpark Hellabrunn. 


Die haltende Hand erweist sich als hilfreich. Sie stützt, wenn der Ziegenbock mit seinen Hörner stößt und trocknet dann Tränen. Nichts ist leicht, alles ist schwierig. VW soll die Alu-Felgen mit neuen Sommerreifen bestücken und die Winterreifen auf ihren Felgen einlagern. Doch VW zieht von den Winterfelgen die Winterreifen ab, montiert auf Winterfelgen die Sommerreifen. Der nächste Werkstattbesuch muss die Sommerreifen wieder von den Winterfelgen abziehen und auf die Alu-Sommer-Felgen montieren. Dabei fährt der Mechaniker an eine Holzpalette und beschädigt die GFK-Schürze meines Autos. Um den Schaden zu beheben, muss mein Wagen wieder in die Werkstatt. Bis der Schaden ausgebessert und passend lackiert ist, vergehen drei Tage. Dafür zahlt die Werkstatt 100 Euro Nutzungsausfall. Doch zurück in den Tierpark Hellabrunn.

 

Der Bär geht baden. Der Zoo sorgt für seine Tiere, die Werkstatt für die Autos, die Behörden für die Papiere.



Bei der Greifvogel-Schau fliegt der Uhu nahezu lautlos über die Zuschauer. Zur Belohnung würgt sich der Raubvogel eine Maus in den Schlund - mit Haut und Haaren.


Zwischen Werkstatt- und Zoobesuch bleibt die Zeit mein Kilo schweres Marokko-Buch aus den Blog-Berichten aufzubereiten und zu bestellen. Für 9,90 Euro lohnt sich die Lektüre der 384 Seiten, auch wenn die Bildqualität zu wünschen übrig lässt. Hier geht es zur

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Weiter geht die Reise: Nach rauschender Frühlingsfahrt von München über nahezu freie Autobahnen schneller Szenenwechsel nach Dortmund.


Mein geliebter Bruder fährt noch den Golf IV TDI, der mich als Neuwagen seit September 1998 etwa 12 lange Jahre mehr als 230.000 Kilometer durch die Lande geschaukelt hat. Das Auto hat nun bald 350.000 Kilometer und wird auch den nächsten TÜV bestehen. Mein Bruder Uli hat sich in seinem langen Leben in Dortmund die Infrastruktur geschaffen, um seine Reichtümer kostengünstig zu unterhalten. Sein Schiff, seine Motorräder, seine Autos bis hin zum 30jährigen historischen Wohnmobil, sowie Haus und Garten - all dies ordnet und regelt Bruder Uli mit liebender Sorge. Das Ruhrgebiet im allgemeinen und Dortmund im besonderen ist eine Reise wert.

Die Nordstadt von Dortmund ist bunt bevölkert - mehrheitlich mit multikulturellem Hintergrund. Libanesische, marokkanische, polnische, russische Restaurants und Imbiss-Buden versorgen die Hungrigen. Die größte Gruppe stellen die Türken, welche ihre gewohnten Marktrituale zelebrieren.


Aus meiner Kindheit oder Jugend ist mir ein Plakat mit der Parole in Erinnerung: "Esst mehr Obst, und ihr bleibt gesund." Dieser Händler sorgt für die Volksgesundheit.


Zum Gemüse kauft die Kundschaft passende Kochtöpfe auf dem Markt der Dortmunder Nordstadt. Vermutlich übersteigt dies Warenangebot sogar dörfliche Marktfeste in Ost-Anatolien.


Zu einem gepflegten Auftritt in der Öffentlichkeit darf das passende Kopftuch nicht fehlen. Das Leben ist so bunt wie die Farben der Stoffe.


Die Bahngleise teilen Dortmund in Nord- und Südstadt. Mehr Geld zirkuliert in der Südstadt, wo sich südlich der Bahngleise mächtige Gebäude der ehemaligen Union-Brauerei erstrecken. Heute beherbergt das Areal einen musealen Kunstkomplex, unter dem Dach ein Kaffee. Der Ort dient nachts als Disco. Bier, Kohle und Stahl waren noch zu meiner Schulzeit in Dortmund blühende Wirtschaftszweige. Seit meinem Abitur 1966 wandelt sich Dortmund gleichsam in ein WelterbeStadt untergehender Industriekultur. Ein Trost bleibt: Noch müssen die Menschen im Großraum zwischen Rhein und Ruhr keine Kleidung und keine Plastikpracht wie für die Menschen in Afrika und Asien produzieren.


Wo es wenig Arbeit und Verdienst gibt, da bleibt viel freie Zeit. Das abgehängte Prekariat vertreibt sich preisgünstig die Zeit. Süchtige verbringen Stunden in Spiel- und Trinkhallen. Manche tätowieren großflächig ihre Haut. Oft zieren  prächtige Sprüche Schenkel, Arme, Bauch oder Brust. Solche geschmackvoll geschnörkelte Schriften sind schwer zu entziffern. Staunend studiert man in der Sauna manch sinnigen Spruch, der wie in Fleisch gemeißelt auffällt. Oftmals fühlt sich der bewundernde Betrachter versucht zu fragen: "Entschuldigen Sie, lassen Sie mich bitte doch einmal in Ruhe ihre Inschriften auf dem Bauch lesen?" Doch dann verkneift man sich doch seine Neugier. Wer den Schmerz nicht scheut, lässt sich Körperlappen mit Stahlstiften zusammenquetschen oder Ohren, Zunge oder andere Hautteile mit nichtrostendem Stahlschmuck stecken. Eine Zunge mit Stahlstift, ein hohes Haupt mit steil stehendem Irokesken-Schnitt, das und mehr bewundert man nicht nur im Zoo.


Graubärtige Greise erinnern sich beim Anblick dieses roten Irokesken nur noch wehmütig an das alte Lied: "August, August, wo sind Deine Haare, Deine stolzen Jahre?"



Ein weiterer preiswerter Zeitvertreib: Das kreative Prekariat lässt seine Schaffenskraft gern an weißen Wänden aus. Hausbesitzer in Dortmund wie anderen Städten freuen sich, dass die Künstler der Straße ihre Immobilien unentgeltlich zeitlos, modern, geschmackvoll und schön signieren.



Die jungen Damen, die sich aus der Halbwelt der Nordstadt in die Gefilde der Südstadt erheben, reizen auf gefährlich hohen Absätze brünstigen Burschen.


Wer von Shop zu Shop stolpert, leistet schwere Arbeit. Niemand soll entkräftet aufgeben, bevor alles Geld verbraten ist. Zur Stärkung gibt es Gebratenes aus Istanbul - zumindest vom Istanbul-Grill.


Wo einst Gaukler und Geschichtenerzähler das Volk be-spassten, da zeigen heute Virtuosen mit Bällen ihre Kunst auf der Straße.


Während sich junge Damen bei "Lady's Wear" putzig in Szene setzen. verbrüdern sich Fans in einigem Kampf gegen gegnerische Fußballvereine. Borussia Dortmund ist an der Börse als Aktienpapier notiert. Der Ausgabekurs von 11,00 Euro wurde in der Vereinsgeschichte zwar nie mehr erreicht. Aber der wahre Fan sponsert seinen Club mit diesen seltsamen Aktien. Es reicht ihm vermutlich, seine Wand damit zu schmücken.


Soweit die Arme der Künstler sich recken und strecken, fasziniert ihr Werk den verwunderten Betrachter.


Wer kein Geld für Farbe hat und kaum mehr seinen Pinsel halten kann, der schützt sich im "Gast-Haus" statt auf einer Park-"Bank" vor Nässe und Kälte. Für die oft kranke Klientel sorgt die "ökumenische Wohnungslosen-Initiative".


In den plüschigen Winkeln der Dortmunder Vororte grünen im Mai Wiesen, Wälder und Felder. Die stolzen Eigenheim-Besitzer ehemaliger Bergmann-Häuschen aus den 20iger Jahren parken ihren gepflegten Fuhrpark am Straßenrand. Im hinteren rechten Bildrand steht mein rollendes Heim. Auch die Alt-Eingeborenen der Dortmunder Vorstadt sind auf den Geschmack gekommen, aus ihrem Kiez per WoMo zu flüchten. Dazu dient auch der gut gepflegte Hymer-Oldtimer-Mercedes, der mit 30 Jahren noch wie neu aussieht. Reichere leisten sich dahinter das neuere Renault-WoMo, das himmelsblau in der Straße glänzt.



Auch per Fahrrad lässt sich ein Haushalt versorgen. Der Kunde kauft beim Kiosk - auch am Pfingstsonntag. Der Kiosk ist Kult im Ruhrgebiet. Hier frischt der Radfahrer seinen Biervorrat auf, um in den Pfingstfeiertagen festlich zu feiern.



Dieser findige Kleinunternehmer hat seinen kultigen Kiosk zur "TRINKHALLE und STEHCAFE" geadelt. Zudem lädt das kleine Vordach ein, die Stelltafel wirbt für Eis, der Papierkorb entsorgt Müll, im Zeitungsständer liegt ein Anzeigenblatt. Das darf der Leser kostenlos nehmen.


Wo Menschen wie in München oder Ingolstadt in modernen Hallen noch lackierte Luxusmobile zusammenschrauben, da stehen Fabriken in Dortmund längst leer. Bäume wachsen an den Fenstern. Dafür bessert sich die Qualität des Wassers, obgleich Forellen dort wohl noch nicht gedeihen.


Jahrzehntelang strömten die Menschen hier zur Arbeit. "Es lobt den Mann die Arbeit und die Tat." So ermuntert der Sinnspruch über den Säulen die Menschen. Doch jetzt verriegeln Absperrgitter den Zugang.


"Es lobt den Mann die Arbeit und die Tat" - der Satz ohne Punkt bleibt stehen, auch wenn die Buchstaben grüne Patina ansetzen.



Ein Blick von der Dachterrasse des ehemaligen Union-Brauerei-Gebäudes zeigt die Bahnstrecken, welche Dortmund in Nord- und Südstadt teilen.


Die breiten Verkehrsadern gleichen am Pfingstsonntag den Oasen der Ruhe. Die Geschäftshäuser überragen die Kirchtürme. Viele Bäume und Sträucher lockern das Stadt- und Straßenbild auf.


Die Architektur der Industriegebäude, wo einst Geld verdient wurde, gleicht der Architektur der Gebäude, wo Geld noch ausgegeben wird: Karstadt ist Kult in Dortmund wie die Kioske.


Wo Menschen keine Arbeit finden oder wollen, muss die Arbeitsagentur entweder Arbeit vermitteln oder Hartz IV gewähren. Am sonnigen Maien-Pfingsttag sieht das Gebäude besser aus, als sich wohl die Kunden dort fühlen, die alltags anstehen für Beratung, Betreuung und/oder Besoldung.


Der soziale Sprengstoff, den die Klassenunterschiede krass verdeutlichen, zeigt sich im Gegensatz. Graffiti im Norden, den Vorstädten, die City strahlt mit Glaspalästen südlich der Bahn.


Fußball für große, Wippen für kleine Kinder: Vor Jahrhunderten befriedigten und befriedeten die Massen klerikale Kult-Kuttenträger, heute Konsum, Sport, Spiel, Spannung und all der Matsch in der Birne, um sich medial zu sedieren.


Mein Bruder pflegt seinen Vorstadt-Garten und ziert ihn mit religiotischem Beiwerk wie diesem Bronze-Buddha am Blumenbeet.


Fröhlich plätschernde Feuchtgebiete zieren sein Gartengelände, welches mein Bruder mit seiner lieben Frau in Jahrzehnten zu einer beachtlichen Oase am Rande der rauschenden A45 ausgebaut hat.


Der unübertreffliche Höhepunkt im festlichen Mai ist der 90jährige Geburtstag meiner Tante, der Schwester meiner Mutter. Hier überreicht als Abgesandter der ländlichen Gemeinde meiner Tante eine Gratulationsurkunde.



Münster muss man sehen. Wie in vielen vorzeigbaren Städten finden sich Interessenten, welche sich von kompetenten Experten die Geschichte der Bauten erklären lassen.



An der Lamberti-Kirche hängen die Käfige, in denen einige Jahrzehnte die Gebeine der Wiedertäufer vermoderten. Der steinerne Kirchturm ist von einer Feuersbrunst aus Kriegszeiten noch schwarz gefärbt.



In diesem Rathaus in Münster machten die Menschen nach dem 30jährige Krieg 1648 Frieden. Wahrscheinlich hatten sie zuvor ihr Hab und Gut soweit zu Grund gerichtet, wie die Menschen nach dem 31jährigen Krieg von 1914 bis 1945.



Wen interessieren noch diese Fakten aus vergangenen Zeiten? Wer interessiert sich überhaupt für etwas anderes als "sein Einziges und sein Eigentum"? Menschen, die vor allem sich selbst präsentieren in ihren sich endlos wiederholenden Stories, finden andere, welche die eigene Einsamkeit mit dem gleichen Geschwätz von falschen Freunden füllen. Wer würde heute noch Bücher ins Feuer werfen? Höchstens, dass aufgebrachte Analphabeten Karikaturen vernichten. Hier stehen Bücher hinter eine Bushaltestelle unter einem Regenschutz. Jeder nimmt, jeder bringt. Bücher vermüllen als wiederverwertbare "Kultur" die Regale, sofern sich professorales Bildungsbürgertum damit keine Schrankwand mehr ziert und füllt.



Hier verschleudert der Handel die Großglanz-Bände in Ausverkauf. Supergünstig! Statt 2800 nur noch 999 Euro. Die letzten gedruckten Lexika, in Metern und Kilo gemessen, brauchen Platz. Das Internet hat die Folianten auf Bildschirm-Formate eingedampft, die wie bei Wikipedia das Wissen der Welt sammeln, aufbereiten und anbieten. Doch wer will etwas anderes wissen, als das, was schmeichelt, die eigene Maskerade schützt, doch sicher auf Dauer nicht nützt?


Wer auf der Straße lebt, verliert mit der Zeit ziemlich alles Interesse an den aufgebretzelten Darbietungen sich selbst anpreisender Egomanen. Allein bei seinem Glas Wein verzieht man sich besser gleichsam wie in eine autistische Unberührbarkeit. Der alte VW-Bus präsentiert die Webseite

www.bulli-bewegt.de



Bei fünf Grad Celsius mitten im Mai erinnert die Nacht im Auto an Degenhardt, obgleich Heizung und Isolierung das Außen vom Innen scharf scheidet.


Bismark in Bad Bentheim. Ein Solebad für fünf Euro zum Morgentarif zwischen 7.00 und 9.00 Uhr früh braucht mein Körper mehr als das garstige Greisengewäsch sich aufbretzelnder Blödel. Mit meiner Frau per Skype eine Viertelstunde Tagesneuigkeiten auszutauschen, reicht mir an Kommunikation. Den Rest lehrt die Landstraße, lässt sich im Internet lesen, ist Landschaften, Gebäuden und Gesichtern im Vorbeigehen zu entnehmen. Mehr muss nicht sein.



Bismark in Bad Bentheim: Es bröckelt sein Standbild aus Sandstein, ein Standbild von vielen. Wenn von uns einst ein Sandkorn bleibt, dann ist viel geblieben.




 

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